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Der Zusammenbruch des SED-Regimes im Herbst 1989 hatte sich schon lange angekündigt – auch wenn niemand ihn kommen sah. Die ökonomischen Schwierigkeiten spitzten sich zu, überfällige Reformen wurden verweigert, die Zahl der Ausreiseanträge stieg. Die sowjetischen Streitkräfte standen seit Gorbatschows Machtantritt 1985 nicht länger bereit, um die inneren Angelegenheiten der DDR zu regeln. Es entstand ein Freiraum, in dem 1989 viele das Land verließen, aber auch viele in der gesamten DDR und so auch im Norden auf die Straße gingen, um ihnen verwehrte Rechte, wie Reise-, Presse- und Versammlungsfreiheit, einzufordern.

1985 leitete Michail Gorbatschow in der Sowjetunion eine Reformpolitik ein, die eigenständige politische Entwicklungen zuließ. In Polen hatte sich schon fünf Jahre zuvor die unabhängige Gewerkschaft Solidarność (Solidarität) formiert, der zwei Drittel aller Werktätigen Polens beitraten. Sie hatte entscheidenden Einfluss auf die politische Wende in Polen und – neben den Entwicklungen in der Sowjetunion - auf das Ende des Kommunismus.

In der DDR mehrten sich Ende der 1980er Jahre kritische Stimmen, die die Ineffizienz der Wirtschaft, Mängel in der Versorgung, die Ungleichbehandlung verschiedener Regionen, den Verfall der Innenstädte sowie die rigorose Abschottung zur Bundesrepublik beklagten. Die Zahl der Anträge auf Ausreise in den Westen nahm unübersehbar zu. In den drei Nordbezirken wurden ab 1986 pro Jahr über 2.000 neue Anträge gestellt.

Trotz allem sperrte die erstarrte DDR-Führung sich gegen Reformen und unterdrückte weiterhin jeden Protest. Die Stürmung der Berliner Umweltbibliothek vom 24. November 1987 durch ein Kommando des Ministeriums für Staatssicherheit sowie die Verhaftungen vom 17. Januar 1988 am Rande der offiziellen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration provozierten landesweite Gegenreaktionen der Opposition, die von nun an auch im Norden der DDR nicht mehr abrissen. Das im November 1988 verhängte »Sputnik«-Verbot stieß selbst innerhalb der drei SED-Bezirksparteiorganisationen auf Widerstand.

1988 hatten knapp 40.000 Menschen die DDR gen Westen verlassen, die meisten mit Hilfe eines Ausreiseantrages. Die Bewilligung dauerte zumeist Jahre und war mit vielen Schikanen verbunden. Ein Viertel floh über ein Drittland, knapp 600 nahmen das hohe Risiko einer Flucht über die schwer bewachte Grenze in Kauf und über 1.000 politische Häftlinge wurden durch die Bundesrepublik freigekauft.

Am 2. Mai 1989 begann Ungarn mit dem Abbau der Sicherungsanlagen an der Grenze zu Österreich. Damit wurde zum ersten Mal seit 1945 das Prinzip des "Eisernen Vorhangs" – die Abriegelung des Ostblocks gegenüber dem Westen – grundsätzlich in Frage gestellt. Zwar gab es eine Zeit lang noch Grenzkontrollen, aber die Flüchtlingszahlen stiegen kontinuierlich. In der Prager Botschaft der Bundesrepublik hielten sich zeitweise bis zu 4.000 Flüchtlinge aus der DDR auf. Nach langwierigen Verhandlungen konnten sie am 30. September 1989 in den Westen übersiedeln. Einige Tage zuvor, am 11. September, hatte die ungarische Regierung die »Grenzsicherungsgemeinschaft« mit den deutschen Genossen endgültig gekündigt. Damit eröffnete sich erstmals seit dem 13. August 1961 eine »Exit«-Option, die massenhaft zur Flucht in den Westen genutzt wurde.

Von den unmittelbaren Folgen der Ausreisewelle waren die drei nördlichen Bezirke nur in geringerem Maße betroffen. Ungeachtet dessen trugen die westlichen Agenturberichte über die dramatischen Vorgänge an der österreichisch-ungarischen Grenze und in der Prager Botschaft auch hier dazu bei, dass immer mehr Menschen dem SED-Regime ihre aktive bzw. passive Loyalität entzogen.

Für die Mobilisierung des kollektiven Protestes waren die sogenannten Basisgruppen, die vornehmlich im Schutzraum der Kirche agierten, von großer Bedeutung. Sie hatten sich in den 1980er Jahren gegründet und beschäftigten sich mit Friedensfragen, Ökologie, Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit.

Anlässlich der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 riefen kirchliche Oppositionsgruppen erstmals dazu auf, sich an den Wahlen direkt zu beteiligen. Ihre Versuche, eigene Kandidaten auf die Listen der „Nationalen Front“ zu setzen, wurden unterbunden. Daraufhin nahmen unabhängige Bürgerinnen und Bürger an den Auszählungen teil und erstellten eigene Hochrechnungen. Teilweise ermittelten sie bis zu zehn Prozent mehr Nein-Stimmen als offiziell angegeben wurden.

Ab September 1989 gründeten sich verschiedene oppositionelle Vereinigungen. Daran waren auch einzelne Personen aus dem Norden beteiligt, so z.B. der Schweriner Bauingenieur Martin Klähn beim „Neuen Forum“, der Greifswalder Studentenpfarrer Arndt Noack bei der SDP und der später als IM enttarnte Rostocker Rechtsanwalt Wolfgang Schnur beim „Demokratischen Aufbruch“. Sie alle strebten überfällige Reformen und einen demokratischen Sozialismus - im Sinne eines »Dritten Weges« - an.

Den stärksten Zulauf hatte das „Neue Forum“. Es verstand sich vor allem als Plattform, um einen gesellschaftlichen Dialog über die notwendigen Veränderungen zu initiieren. Die erste öffentliche Veranstaltung am 2. Oktober 1989 in der Schweriner Paulskirche sorgte für eine nahezu flächendeckende Mobilisierung. Spontan gründeten sich im gesamten Land Ortsgruppen, viele von ihnen durchaus mit einer eigenen Ausprägung. Daneben entstanden auch eigene Organisationsformen, wie die Anklamer »Bürgergruppe Wende 89«, die »Vereinigte Bürgerinitiative Sternberg« und die »Initiative 89« in Wismar.

Anfang Oktober 1989 kam es zunächst in Plauen (Vogtland), zwei Tage später in Leipzig und kurz darauf auch in anderen Städten der DDR zu Massendemonstrationen für gesellschaftliche Reformen. Die Situation war extrem angespannt: Panzer, Wasserwerfer und Kampfgruppen standen in Bereitschaft. Doch der massenhafte Protest entfaltete eine solche Eigendynamik, dass er sich auch durch militärische Drohgebärden nicht mehr eindämmen ließ.

Die SED wählte am 18. Oktober einen neuen Generalsekretär. Doch auch dessen Ankündigungen von „Kontinuität und Erneuerung“ blieben hinter den Erwartungen der Bevölkerung deutlich zurück.

Auch in den drei Nordbezirken trugen ab Mitte Oktober immer mehr Menschen ihren Protest auf die Straße. In über 30 Orten kam es innerhalb von zwei Wochen zu mehr als 50 Massendemonstrationen und -kundgebungen. Die führenden Repräsentanten von Partei und Staat erwiesen sich als unfähig, in angemessener Weise auf diese Entwicklung zu reagieren. Noch zum 40. Jahrestag der DDR, am 7. Oktober, hatten sie Jubelfeiern organisiert und verweigerten auch weiterhin jeden Dialog mit der Opposition. Erst Ende Oktober sah die SED-Spitze sich genötigt, ihre Dialog-Bereitschaft gegenüber der breiten Masse zu demonstrieren. Doch das Misstrauen der Bevölkerung war inzwischen zu groß: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“ – hieß es auf Plakaten.

Der spektakuläre Fall der Mauer am 9. November stellte für den Fortgang der Ereignisse eine entscheidende Zäsur dar. Der Führungsanspruch der SED war nicht länger aufrechtzuerhalten. Um ihr politisches Überleben zu sichern, verfolgte die Partei nunmehr eine Doppelstrategie. Mitte November 1989 wurde eine neue Regierung unter dem Vorsitz von Hans Modrow (SED) gebildet. Damit fügte die SED sich offiziell in das neu entstehende Parteiensystem ein, nahm aber weiterhin entscheidenden Einfluss auf die politische Entwicklung. Durch den formalen Rückzug der Partei aus dem Staatsapparat verstärkte sich der Einfluss der sogenannten Massenorganisationen. Auch acht Oppositionelle wurden als Minister ohne Geschäftsbereich an der Regierung beteiligt.

Im Winter 1989/90 spitzte sich die innere Krise zu. Die Modrow-Regierung setzte eher auf Bewahrung als auf radikale Reformen. Der anhaltende Übersiedlerstrom in die Bundesrepublik, die rasante Talfahrt der Wirtschaft sowie Putschgerüchte, Bombendrohungen und das Aufflackern von Streiks ließen ein allgemeines Chaos befürchten. Während der Staatsapparat an Handlungsfähigkeit verlor, war die Opposition weder bereit noch in der Lage, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Diese »Pattsituation« veranlasste beide Seiten zu einer sachlichen Zusammenarbeit. Dazu gehörte u.a. die Einrichtung Runder Tische, an denen die Vertreter der neuen politischen Bewegungen ebenso beteiligt waren wie die Kirchen und andere gesellschaftliche Gruppen. Auch völlig neuartige basisdemokratische Institutionen, wie die Anklamer »Bürgerversammlung«, der Rostocker »Bürgerrat« oder die »Stralsunder 20«, nahmen ihre Arbeit auf.

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hatte über Jahrzehnte u.a. mit einem breiten System von Spitzeln die Herrschaft der SED gesichert. Mitte November wurde es in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) umbenannt. Schon bald machten Gerüchte über Aktenvernichtungen im großen Stil die Runde. Am 2. Dezember entdeckten Bürger auf einem Gelände in Kavelstorf, bei Rostock, ein geheimes Waffenlager und erstatteten Anzeige. Nachdem der dafür zuständige MfS-Oberst Alexander Schalck-Golodkowski sich einen Tag später in den Westen abgesetzt hatte, rief die Opposition zu „Kontrollmaßnahmen“ auf. Am 4. Dezember berichtete der Rundfunk über die Vernichtung von Akten in zahlreichen Dienststellen des AfNS. Noch am selben Tag versuchten couragierte Bürger dies zu stoppen, so auch in Rostock, Bad Doberan, Greifswald, Parchim, Stralsund und Templin.

Um nicht gänzlich die Kontrolle über die Entwicklung im Land zu verlieren, entsandte Ministerpräsident Modrow sogenannte Sonderbeauftragte in die Bezirke. Sie arbeiteten zumeist eng mit den Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit zusammen. Wie später bekannt wurde, handelte es sich dabei zum Teil um Offiziere der Staatssicherheit. Mitte Dezember beschloss die Modrow-Regierung die Auflösung des AfNs, kündigte jedoch zugleich die Bildung eines Verfassungsschutzes und eines Nachrichtendienstes an. Die Opposition sah dies als unerhörte Provokation. Der massive Protest führte schließlich dazu, dass die Regierung beschloss, vor den nächsten Wahlen keine neuen Dienste zu bilden. Die endgültige Auflösung der Staatssicherheit als Organ und Struktureinheit wurde am 20. Februar 1990 zuerst im Bezirk Schwerin abgeschlossen.

Schon bald nach der Grenzöffnung am 9. November wurden die Rufe nach einer deutschen Einheit − wenn auch im Norden etwas verhaltener – immer lauter. Parallel dazu bemühten sich Politiker und Wirtschaftsvertreter aus der Bundesrepublik darum, Einfluss auf den Reformprozess in der DDR zu nehmen. Ihren attraktiven Angeboten zur Zusammenarbeit auf regionaler und kommunaler Ebene vermochten sich die nur noch eingeschränkt handlungsfähigen Repräsentanten des DDR-Staatsapparates nicht zu entziehen. Im Norden wurde ein »Vorläufiger Regionalausschuss des Landes Schleswig-Holstein mit den Bezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg« gebildet und konkrete Vorstellungen für die Neuordnung der Verwaltung des künftigen Landes Mecklenburg-Vorpommern entwickelt.

Die Änderung der öffentlichen Meinung führte zu einer Neuformierung der politischen Kräfte. Die Initiatoren der Protestbewegung gerieten dabei zunehmend ins Hintertreffen. Der einsetzende Wahlkampf zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 war stark geprägt von der Präsenz westdeutscher Parteien und ihren zum Teil enormen finanziellen Wahlkampfhilfen. Mit dem klaren Sieg der Allianz für Deutschland setzten sich jene Kräfte durch, die für den schnellen Beitritt der DDR plädierten. Wie die Wahlergebnisse zeigen, galt dies auch für die Nordbezirke. Obwohl die CDU auch hier zur stärksten Kraft wurde, schnitten SPD, PDS und Bauernpartei jedoch deutlich besser als im Landesdurchschnitt ab.

Nicht nur im Norden waren für die Friedliche Revolution besonders zwei Phänomene charakteristisch: ihre Gewaltfreiheit einerseits sowie die erstaunliche Vielfalt lokaler Gruppierungen, Gremien und Verfahrensweisen andererseits.

Auch wenn die Demonstrationen im Norden etwas später einsetzten als andernorts, sind die Ereignisse in den drei Nordbezirken keineswegs als ein bloßes »Nachholen« der Entwicklungen des Südens zu werten: Die erste öffentliche Informationsveranstaltung des „Neuen Forums“ in Schwerin fand sechs Tage früher als die in Leipzig statt. Der Güstrower Runde Tisch, der bereits am 6. November gebildet wurde, dürfte einer der ersten Runden Tische überhaupt gewesen sein. Und bei der Entmachtung der Staatssicherheit nahmen Orte wie Rostock und Greifswald sogar eine Vorreiterrolle ein. Damit gibt es eine ganze Reihe von Gründen, die es rechtfertigen, von einem eigenständigen Beitrag des Nordens zur »Wende« in der DDR zu sprechen.